Die Kleine liegt neben mir im Bett. Sie schläft, ich höre ihren gleichmäßigen, ruhigen Atem und drehe mich auf die Seite. Sie sieht so friedlich und zufrieden aus. Ich rieche ihren süßlichen Babyduft. Ich sehe sie an und umfasse ihre kleine Hand. In wenigen Wochen werden wir ihren ersten Geburtstag feiern. Der erste Geburtstag ist ein Meilenstein. Wie unfassbar glücklich wir in diesem allerersten, magischen Moment nach der Geburt waren. Und wie dann die Angst und Ohnmacht hereinplatzten …Wir erlebten extreme Tage … an denen wir abwechselnd Freude, Liebe, dann wieder Angst, Unsicherheit und Trauer spürten. Wir hatten das Gefühl, in einem Traum zu leben, aus dem man nicht mehr aufwacht.
Stimmt etwas nicht?
Es gab bei der Kleinen schon während der Schwangerschaft den Verdacht auf eine Trisomie. Der Papa und ich gingen in der 20. Schwangerschaftswoche zum Vorsorgetermin. Es war das erste Mal, dass er die Kleine live auf dem Monitor sehen sollte. Die Ärztin rollte mit dem Ultraschallkopf auf meinem Bauch hin und her. Der Papa und ich richteten unsere Blicke auf den Monitor und schauten die Kleine an. Für mich war klar, dass alles in Ordnung ist, ich fühlte mich ausgesprochen gut mit meiner Kugel. Die Kleine sah ganz fidel aus, ein winziges Wunder. Wir sahen ihre Beine, ihre Arme, den Kopf, konnten zusehen, wie sie sich bewegte.
Wir ahnten nichts
„Ich muss Sie ins Pränatalzentrum schicken, zur Kontrolle …" Im Gehirn des Babys hätten sich zwei mit Wasser gefüllte Zysten gebildet, diese seien im Grunde völlig ungefährlich. Allerdings könnten sie ein Hinweis auf eine Trisomie sein. Stille. Es dauerte bis die Worte der Ärztin ankamen.
Ich zog mein Oberteil wieder zurecht und wir gingen schweigend in das Besprechungszimmer. Die Ärztin zog ein Buch aus ihrem Regal und blätterte eine Weile hin und her. Es war immer noch still, nur das Rascheln der Seiten war zu hören. Dann hatte sie etwas gefunden und erklärte uns, dass diese Zysten den Namen Plexuszyten haben. Sie könnten ein Hinweis auf eine Trisomie 18 sein, das sei aber eher unwahrscheinlich, in ihrer Praxis habe sich der Verdacht bisher bei anderen Schwangerschaften nicht bestätigt.
Ruhig bleiben
Dem Papa und mir gelang es ganz gut ruhig zu bleiben. Die Arzthelferin war sehr bemüht, noch am gleichen Tag einen Termin für mich zu bekommen und verbrachte einige Zeit am Telefon, bis sie schließlich Erfolg hatte.
Der Papa hatte einen beruflichen Termin und konnte nicht bei mir bleiben. Mir war das in dem Moment sogar lieber, dort alleine hinzugehen. Ich wollte daraus nicht so eine große Sache machen. Denn wenn er dabeibleiben würde, dann wäre das für mich eine große Sache. Wenn jemand so kurzfristig einen Termin absagen muss, dann muss es schon fast ein Notfall sein, und ich wollte keinen Notfall. Wir verabschiedeten uns mit einem Kuss, die Handys blieben an.
Was sagt Dr. Google dazu?
Ich hatte noch einige Stunden Zeit bis zu dem Termin im Pränatalzentrum, setzte mich in ein Café, zog mein Handy aus der Tasche und gab bei Google Plexuszysten ein. Ich las in Foren von einigen Fällen, in denen sich Plexuszysten gebildet hatten und dann nach der Geburt alles gut war. Über Trisomie 18 las ich, dass diese Babys häufig bereits im Mutterleib sterben würden oder kurz nach der Geburt.
Feindiagnostik
Kurze Zeit später saß ich im Wartezimmer einer Praxis für Pränatalmedizin. Alleine, ich war die einzige Patientin weit und breit. Ich kramte in meiner Tasche und holte etwas zu trinken heraus. Als ich die Flasche öffnete, schoss das ganze Wasser heraus, es hatte sich zu viel Druck gebildet. Meine Hose war nass, auf dem Boden sammelte sich das Wasser zu einer Pfütze. Ich wühlte wieder in meiner Tasche, diesmal nach Taschentüchern, und trocknete den Boden damit. Ein junge Frau kam herein und stellte sich als Hebammenschülerin vor. Sie war sehr freundlich und half mir, die Pfütze zu beseitigen. Dann führte sie mich in den Untersuchungsraum, wo mich die Ärztin begrüßte. Der Raum war abgedunkelt, die Lamellen am Fenster waren zugezogen, das Licht gedämpft. Ich könnte schwören, dass wir im Flüsterton miteinander geredet haben. Die Ärztin untersuchte mich ausgiebig. Feindiagnostik, modernste 3-D-Technik. Die Bilder sind nicht schwarz-weiß wie bei meiner Ärztin. Das Bild auf dem Monitor schaut aus, als habe man einen Sepia-Effekt eingestellt. Ab und zu sieht man blaue und rote Linien aufblitzen, die den Blutfluss darstellen.
Eine Trisomie ist unwahrscheinlich
Die Ärztin erklärte jeden ihrer Schritte. Als sie fertig war mit ihrer Untersuchung, fasste sie zusammen. Es gebe einen white spot im Herzen und die Plexuszysten im Gehirn. Beides sei an sich ungefährlich. Ein white spot könne ein Hinweis auf eine Trisomie 21 sein, die Plexuszysten würden eher mit Trisomie 18 in Verbindung gebracht. Es gebe keine weiteren Auffälligkeiten und zusammenfassend sei es unwahrscheinlich, dass die Kleine eine Trisomie habe. Wenn wir es jedoch genau wissen wollten, so müssten wir eine Fruchtwasseruntersuchung machen. Sie klärte mich über die Risiken auf. In seltenen Fällen kann es durch eine Fruchtwasseruntersuchung zu einer Fehlgeburt kommen. Außerdem, erklärte sie, gebe es seit Kurzem einen Bluttest, der aber noch recht teuer sei und die Zuverlässigkeit der Aussagen noch umstritten. Die Ärztin bot an, dass wir mit einer Humangenetikerin reden könnten, wenn wir weitere Beratung wünschten.
Etwas erleichtert, aber nicht erlöst, verließ ich die Praxis. Der Papa kam mir schon entgegen, sein Termin war inzwischen beendet. Wir gingen spazieren, redeten und schwiegen, versuchten einzuordnen. Wir setzten uns auf eine Bank und schauten in die Ferne, ein Gewitter zog auf. Ich machte mir Sorgen um die Kleine, wollte sie am liebsten in den Arm nehmen.
Sie müssen sich beeilen
Ich rief am gleichen Abend noch mal in der Praxis für Pränatalmedizin an, um einen Beratungstermin bei der Humangenetikerin auszumachen. Ich sprach mit dem leitenden Arzt am Telefon. Er schaute sich die Ergebnisse der Untersuchung noch mal an und sagte: „Sie müssen sich beeilen, wenn Sie weitere Untersuchungen machen möchten.“ Er rechnete, wie lange es brauchen würde, bis die Ergebnisse vorliegen und in welcher Schwangerschaftswoche ich dann wäre. Ich brauchte ein bisschen, um zu verstehen, dass er mit mir über eine mögliche Abtreibung sprach. Es fühlte sich an, als wenn mir ein kriminelles Angebot gemacht würde. Mir wurde schlecht.
Die Genetikerin
Das Gespräch mit der Humangenetikerin konnten wir einen Tag später führen. Ich wusste gar nichts über die Aufgaben eines Humagenetikers und stellte mir vor, dass so jemand den ganzen Tag mit einer Brille und einem Kittel zwischen Reagenzgläsern und Mikroskopen hin und her läuft.
Unsere Humangenetikerin kam gut gelaunt und ohne Kittel in den Beratungsraum. Sie schaute sich die Untersuchungsergebnisse an und wirkte ganz locker und unbesorgt. Ich fühlte mich sehr gut aufgehoben bei ihr. Sie erklärte alles noch mal in Ruhe. Es war auch für den Papa wichtig, die Informationen von einer Ärztin zu hören und nicht nur von mir. Auch sie fasste zusammen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Trisomie sehr gering sei. Sie sagte, man könne es auch so sehen, dass wir durch die Feindiagnostik ganz viele mögliche „Fehler" ausschließen könnten.
Wie ging es weiter?
Die Schwangerschaft war nun nicht mehr so unbeschwert, wie sie es zuvor war. Ich hatte noch einige Untersuchungen, weil immer mal wieder hier und da etwas auffiel, dann aber bei genauem Hinsehen immer wieder relativiert werden konnte. Zusammengezählt haben neun Ärzte uns gesagt, dass sie es für extrem unwahrscheinlich hielten, dass die Kleine eine Trisomie habe. (Niemand sagte das ohne anzumerken „Wenn Sie es genau wissen wollen, müssen Sie weitere Untersuchungen machen lassen …“. Eine Absicherung für die Ärzte, die keine Sicherheiten geben konnten.) Ich sehe noch den Chefarzt der Klinik vor mir, wie er nach einem Untersuchungstermin sagte: „Und, sind Sie erleichtert?!“ Okay, dachte ich, wenn er das sagt, sind meine Sorgen wohl unberechtigt.
Und heute?
Heute habe ich den Wunsch zu feiern. Ich möchte feiern, dass die Kleine da ist! Ich möchte zeigen, wie sehr ich mich über sie freue und dass ich stolz bin auf sie. Ich möchte diese Freude teilen - mit der Familie und mit Freunden. Ich weiß sehr genau, dass wir alle nach der Geburt Zeit brauchten, durcheinander waren, geschockt. Und ich weiß auch, dass die Kleine vielen lieben und tollen Menschen ans Herz gewachsen ist. Die Gefühle von Ohnmacht und Sorge haben die Leichtigkeit anfangs eingenebelt. Es ist, als wenn ich etwas zurückhole, was der Kleinen „zusteht“, was mir als Mutter zusteht, ihrer Schwester und auch dem Papa… Nach der Geburt habe ich die Momente der unbeschwerten Freude über den kleinen Menschen so schmerzlich vermisst. Und jetzt ist die Zeit, genau das nachzuholen.
Sarah, November 2014